Endlich entspricht die Folgerung der Theorie, dass die Kathodenstrahlen die Minimallinien des Feldes ebenso sehr bevorzugen wie die Maximallinien, den Thatsachen. Es dürfte allen Beobachtern bekannt sein, dass das blaue Kathodenlicht die engsten, verstecktesten Winkel der Kathode, in welchen die electrostatische Kraft ein Minimum ist, bevorzugt, ja häufig dort zuerst auftritt. Das Gleiche gilt von den starken Kathodenstrahlen. Dieselben entspringen mit Vorliebe der Symmetrieaxe eines sehr engen einspringenden Winkels der Kathode oder der Axe eines röhrenförmigen Theiles der Kathode, vermeiden also keineswegs die Stellen minimaler Kraft an der Kathodenoberfläche. IV. Die Herren E. Wiedemann und G. C. Schmidt geben nicht zu, dass die von mir beschriebene electrostatische Ablenkung der Kathodenstrahlen1) eine directe Wirkung der Aenderung der ablenkenden electrostatischen Kraft auf die Kathodenstrahlen ist, sondern nehmen das Vorhandensein einer Zwischenwirkung an. Es soll zufolge der Aenderung der electrostatischen Kraft eine ,,Veränderung des Feldes" eintreten, welche entweder eine veränderte Lage der Eintrittsstelle des Stromes in die Kathode, bez. eine Verschiebung der positiven Lichtsäule oder aber die Ausbildung von secundären Kathoden bewirkt, welche deflectorisch auf die bereits vorhandenen Kathodenstrahlen einwirken. Die Anordnung der beiden Experimente, welche sie beschreiben, ist von den Versuchsanordnungen, welche ich verwendet habe, nicht principiell verschieden. Das Gleiche gilt von dem Ausfall derselben, auch von dem des Experimentes 2 (1. c. p. 516, Zeile 1). Leider geben die beiden Herren keinen Fingerzeig, durch welche Schlüsse man aus ihren Experimenten etwas über das Vorhandensein einer Zwischenwirkung folgern könne. Das blosse Vorhandensein einer Verschiebung der Ansatzstelle ist doch keineswegs ein Anzeichen des Vorhandenseins einer Zwischenwirkung, abgesehen davon, dass es, wie weiter 1) G. Jaumann, Sitzungsber. d. kais. Akad. d. Wissensch. zu Wien 105. 1896; Wied. Ann. 59. p. 252. 1896. oben gezeigt wurde, aus der Theorie folgt. Hr. E. Wiedemann selbst hat ja die Verschiebung der Ansatzstelle der Kathodenstrahlen bei der magnetischen Ablenkung derselben constatirt, und niemand nimmt deshalb an, dass diese Verschiebung der Ansatzstelle ein Anzeichen ist, dass die Wirkung der ablenkenden magnetischen Kraft auf den Kathodenstrahl keine directe, sondern eine durch eine Zwischenwirkung vermittelte sei. Hr. H. Poincaré1) bezeichnet die in meiner I. Mittheilung nachgewiesene Selbststreckung der Kathodenstrahlen als einen sonderbaren Mechanismus. Das Gesetz, nach welchem sich die Glaswand des durchstrahlten Recipienten ladet und welches die Ursache des gestreckten Verlaufes der Kathodenstrahlen und der kurzen Dauer der electrostatischen Ablenkungen ist, ist nicht ganz fremdartig. Die Selbststreckung der Kathodenstrahlen ist eine Erscheinung, welche mit der Entladung verwandt ist, wie ich dies schon a. O. hervorgehoben habe.2) Nähert man dem Recipienten einen geladenen Körper A, so werden die Kraftlinien im Vacuum abgelenkt. In kurzer Zeit jedoch haben die abgelenkten Kathodenstrahlen zu der schon vorhandenen Ladung der Glaswand eine solche Vertheilung B freier Ladung hinzugefügt, dass die Kraftlinien trotz der Nähe des Körpers ihren früheren Verlauf wieder annehmen. Thatsächlich machen die Strahlen nur während der Näherung des Körpers 4 einen ca. 0,2 Sec. dauernden Ausschlag und verlaufen dann trotz der Nähe des Körpers A wie früher. Dass die Vertheilung B freier Ladung auf der Glaswand wirklich vorhanden ist, erkennt man schon daraus, dass während der Entfernung des Körpers A die Strahlen den entgegengesetzten Ausschlag machen, aber hierbei die freie Ladung B vernichten und zufolge dessen binnen 0,2 Sec. wieder ihren normalen Verlauf annehmen. Wie ist nun die freie Ladung B auf der Oberfläche der Glaswand vertheilt? Dies ist leicht zu beantworten. Sie muss die Wirkung des genäherten Körpers A auf das Innere des 1) H. Poincaré, L'éclairage électrique 9. p. 291. 1896. Recipienten gerade aufheben, sie ist also so vertheilt, als wäre das durchstrahlte Vacuum ein Leiter und als wäre sie an der Oberfläche dieses Leiters durch die Influenzwirkung des Körpers ▲ hervorgerufen. Auch das Verhalten der Strahlen gegen die Anode, welche bei meinen Versuchen nicht in das Vacuum, sondern in das den Recipienten umgebende Oel tauchte, hat ganz denselben Charakter, wenn auch hier die Ablenkung der Strahlen und die Ladung B der Glaswand eine dauernde, stationäre ist, da die Glaswand in halbleitender Verbindung mit der Anode steht. Die ladende Kraft der Strahlung bewirkt einfach den Ausgleich aller durch einen ausserhalb des Vacuums befindlichen ablenkenden Körper innerhalb des Vacuums bewirkten Potentialdifferenzen. Die ladende Kraft der Strahlung, welche die Selbststreckung der Kathodenstrahlen bewirkt, ist also zweifellos verwandt mit den entladenden Wirkungen, welche Strahlen jeder Art ausüben. Das Ziel des Ausgleiches, der Gleichgewichtszustand, ist jedoch merkwürdigerweise hier nicht dadurch bestimmt, dass alle Potentialdifferenzen innerhalb des Vacuums aufgehoben sind, sondern dadurch, dass eine von der Kathode ausgehende Kraftlinie möglichst gestreckt verläuft. Die Kathodenstrahlen schaffen sich dasjenige electrostatische Feld selbst, in welchem sie am besten fortkommen. Während nämlich von der Kathode dauernd starke Kräfte ausgehen, vernichtet die Strahlung nicht nur die Kräfte, welche von ausserhalb des Vacuums befindlichen Körpern herrühren, sondern sie vernichtet auch die Kräfte einer Anode, welche in das Vacuum taucht, wie eine solche gewöhnlich vorhanden ist. Der geringe Einfluss einer solchen Anode auf den Verlauf der Strahlen bedarf vor allem der experimentellen Untersuchung. Um die Kathodenstrahlen zu veranlassen, zur Anode hinzugehen, um also Anodenstrahlen herzustellen, muss man die Ladung der Glaswand modificiren. Es ist dies in sehr verschiedener Weise möglich, z. B. durch Bestrahlung der Glaswand mit verschiedenen Strahlenarten (Kathodenstrahlen, Licht, Röntgenstrahlen) oder durch Bedecken der Innenseite der Glaswand mit entsprechend geladenen Draht netzflächen. Meine Versuche in diesen Richtungen versprechen Erfolg. Hier will ich nur ein äusserst einfaches Experiment beschreiben, welches diesen Zweck allerdings auf einem ganz speciellen Wege erreicht, welches aber doch sehr anschaulich zeigt, dass die Kathodenstrahlen den negativen electrischen Kraftlinien folgen. concave Am schmalen Ende eines birnförmigen, auf 0,05 mm evacuirten Recipienten ist die Anode A (Fig. 8) eingesetzt, die obere Seite derselben ist mit einer dünnen Schicht einer fluorescirenden Substanz bestrichen.) Diese Anode ist unter Zwischenschaltung der 5 mm langen Funkenstrecke F zur Erde abgeleitet. Die Kathode K ist ein Drahtstift, welcher an dem Ende eines. längeren Zuleitungsrohres eingesetzt ist, welches bei m in ein Stativ gespannt werden kann. Die Kathode K sendet helle Kathodenstrahlen aus, die jedoch in dem Glasrohre nicht weit kommen. In dem oberen Theile AG des Recipienten jedoch sind, solange kein Funke bei F springt, keine nennenswerthen Potentialunterschiede möglich. Die ganze Glaswand und auch die Anode ladet sich ziemlich gleichmässig negativ. In dem Augenblicke aber, wo ein Funke bei F übergeht, wird die Anode 4 auf das Potential Null gebracht, während die ganze Glaswand über A noch negativ electrisch ist. Wenn also jetzt Kathodenstrahlen auftreten, und hierzu sind die Verhältnisse zufolge des lebhaften Funkenstromes bei F sehr günstig, so bleibt diesen Strahlen nichts anderes übrig, als von der Glaswand auszugehen, denn diese allein ist negativ. Thatsächlich gehen kräftige Kathoden m K Fig. 8. 1) Ich benutze hierzu ein Fett, welches Kiss in Budapest zum Einfetten der Schliffe liefert und welches unter dem Einflusse der Kathodenstrahlen hell saphirblau luminescirt. strahlen von der ganzen Glaskuppe G aus. Dieselben gehen aber nicht geradlinig in der Normale ihres Ausgangspunktes auf der Glaswand fort, sondern sie bilden das in Fig. 8 dargestellte, aus krummlinigen Strahlen bestehende Büschel, welches mit einem schmalen Stiel auf der Anode endet. Diese Strahlen folgen also zweifellos den electrostatischen Kraftlinien des Feldes (genauer der Maximallinie). Die Glaswand fluorescirt hierbei fast gar nicht. Hingegen fluorescirt die eingefettete Anode lebhaft saphirblau, namentlich in der Fläche von 5 mm Durchmesser, in welcher sie von dem stielförmigen Ende des Strahlenbüschels getroffen wird. Dieser Endpunkt der Kathodenstrahlen hat begreiflicherweise keine sehr bestimmte Lage auf der Anode, sondern zeigt eine zitternde Beweglichkeit, welche in charakteristischem Gegensatze steht zu der grossen Ruhe, welche der Ansatzpunkt von Kathodenstrahlen auf einer Kathode bewahrt. Diese verkehrten Kathodenstrahlen oder Anodenstrahlen zeigen, da sie gleicher Natur wie die gewöhnlichen Kathodenstrahlen sind, auch die entsprechende magnetische Ablenkbarkeit, d. h. die umgekehrte wie Kathodenstrahlen, die von A als Kathode ausgehen würden. Hierbei wird die Ansatzstelle der Anodenstrahlen auf der Glaswand und ihre Endstelle auf der Anode in demselben Sinne abgelenkt. Die Anodenstrahlen zeigen ferner die zu erwartende umgekehrte electrostatische Ablenkbarkeit. Von Interesse ist auch die Abstossung, welche die Anodenstrahlen erfahren durch die dem Recipienten bis auf 2 cm genäherte Hand. Hierbei tritt ein weiteres Büschel von Kathodenstrahlen auf, welches denselben Ursprung auf der Glaswand hat wie die Anodenstrahlen, welches aber gegen die Hand hin verläuft. Es ist mir eine angenehme Pflicht, der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen auch hier für die Unterstützung meiner experimentellen Arbeiten meinen Dank auszusprechen. Phys.-chem. Inst. d. deutschen Univ. Prag, 28. Juni 1897. (Eingegangen 4. November 1897.) |